Mythos Dehnung / Stretching
Die Dehnung der Muskulatur gehört insbesondere beim Sport nach wie vor zum Training und Wettkampf. Auch zur Behandlung der Beschwerden des Bewegungsapparates werden häufig Dehnungen eingesetzt. Es gilt, dass Dehnungen (= Stretching) der Muskulatur positive Effekte haben soll. Stimmen diese Vermutungen mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen überein oder sind sie ein Mythos?
Bei der Recherche fand ich folgende Ergebnisse:
Dehnung/Stretching verbessert nicht die Leistung
Does Stretching Improve Performance?: A Systematic and Critical Review of the Literature – Shrier, Ian MD, PhD – Clin J Sport Med • Volume 14, Number 5, September 2004 (http://www.elitetrack.com/article_files/stretchingreview.pdf)
Im Gegenteil wurde sogar festgestellt, dass weniger dehnfähige Läufer bessere 10-km Bestzeiten erzielten, als ihre „flexible“ und dehnfähige Vergleichsgruppe. Sie hatten vermutlich eine bessere Laufökonomie. Es wurde vermutet, dass die steifen Muskeln die Energie besser speichern und abgeben können (Sit-and-reach flexibility and running economy of men and women collegiate distance runners – Trehearn TL, Buresh RJ. – http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19050648 ).
Aus Sicht der Faszienforschung ist das Ergebnis besser erklärbar. Die durch die Muskeln gespannten Faszien geben die aufgenommene Energie wie eine Sprungfeder ab (In vivo muscle force-length behaviour during steady-speed hopping in Tammar Wallabies – Biewener et al. – http://jeb.biologists.org/cgi/content/abstract/201/11/1681).
Dehnung/Stretching schützt nicht vor Muskelkater
Effects of stretching before and after exercising on muscle soreness and risk of injury: systematic review – Rob D Herbert, Michael Gabriel – Muskeln werden nicht länger: To stretch or not to stretch: the role of stretching in injury prevention and performance – McHugh MP, Cosgrave CH. – http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20030776
Muskeln werden nicht länger
To stretch or not to stretch: the role of stretching in injury prevention and performance – McHugh MP, Cosgrave CH. – http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20030776
Wenig Auswirkungen
Auch Professor Rieger führt in seinem Buch : Sportverletzt – Was jetzt? (Dt. Ärzteverlag) an, es gäbe Hinweise darauf, dass Stretching und Dehnung keine der folgenden Auswirkungen habe:
- Verhinderung von Verletzungen
- Verringerung der Muskelspannung
- Verringerung der Muskelungleichgewichte
- Verminderung der Muskelverkürzung
- Steigerung der Muskelleistungen
Weiterhin wird ausgeführt, dass sogar schon leichte Dehnung zur Schädigung der Muskelzellen führen können (gemessen als Anstieg der Creatinkinase als Indikator für geschädigte Muskelzellen).
Des weiteren werde die Schmerzempfindlichkeit herabgesetzt, so dass Schmerzen zu spät wahrgenommen würden. Die verspätete Schmerzwahrnehmung wiederum könne die Verletzungsgefahr steigern.
Die meisten Muskelverletzungen ereigneten sich nach Prof. Rieger innerhalb des „normalen“ Bewegungsablaufes. Eine Verlängerung der Muskulatur habe keinen Einfluß auf die Verletzungswahrscheinlichkeit.
Rieger betont genau wie die oben genannten Autoren, dass Dehnungen vor oder nach der Belastung nicht vor Muskelkater schützen. Muskelkater verstehe man heutzutage eher als kleinste Verletzung der Muskulatur. Diese Mikroverletzungen können durch Dehnung eher gefördert werden. Daher sei auch das Argument, dass Stretching der Regeneration zuträglich sei, eher fragwürdig.
„No pain – no gain“ fragwürdig
Der Ausspruch „No pain – No gain“ ist nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft kritisch zu bewerten. Sicher gibt es den einen oder anderen der sich besser fühlt, wenn er sich nach dem Laufen oder anderer sportlicher Betätigung ein wenig streckt und seine Glieder dehnt. Wissenschaftliche Beweise für die hohen Ansprüche des Dehnens gibt es jedenfalls nur wenige.
Aus der Sicht des Fasziendistorsionsmodells bzw. der Orthopathie führen die Dehnungen jedoch zu anderen positiven Effekten. Durch den Zug an den Faszien könnten sich unserer Ansicht nach bindegewebige Verklebungen (Adhäsionen) reduzieren. Durch die Verringerung der Adhäsionen wiederum kann sich eine schmerzfreiere Bewegung und ein Gefühl der leichteren Beweglichkeit einstellen. Dadurch wären die als positiv wahrgenommenen Effekte einzelner erklärbar. Diese Hypothese ist jedoch noch durch wissenschaftliche Arbeiten zu prüfen.
Viel Spaß beim „Cooldown“ ohne Dehnung und Schmerzen wünscht Ihr
Dr. med. Christian Stein